75. Jahrestagung der DGPT
Hauptreferenten
Prof. (em). Dr. med. Ulrich T. Egle
Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Spezielle Schmerztherapie, Psychosomatische Schmerztherapie und zertifizierter Schmerzgutachter.
Zur Zeit als wissenschaftlicher Berater der Psychiatrischen Klinik Sanatorium Kilchberg/Zürich tätig.
Paradigmenwechsel bei der Behandlung chronischer Schmerzpatienten. Vom Konversionsschmerz zur erfahrungsgesteuerten neuronalen Plastizität der Stressverarbeitung
Durch neurobiologische Erkenntnisse gab es in den letzten Jahren einen weitreichenden Paradigmenwechsel beim Verständnis der zentralen Schmerzperzeption.
Da es im Unterschied zu anderen Sinnesreizen dafür keinen spezifischen kortikalen Bereich gibt, nutzt das Gehirn zentrale Konnektivitätsnetzwerke, welche u.a. auch bei der Stressverarbeitung eine zentrale Rolle spielen. Dabei kann es im Rahmen von Erwartungen und nicht bewusst ablaufenden Wahrscheinlichkeitsberechnungen („predictive processing“) durch vorausgegangene Kontext-Erfahrungen bzw. Gefahr-Prägungen („Priors“) zu einer Fehlattribuierung („Fehlalarm“) kommen und dadurch ein subjektives Schmerzerleben generiert werden. Dies zu erkennen und ggf. zusammen mit den Patientinnen und Patienten zu verändern, stellt eine zentrale Aufgabe einer neurobiologisch fundierten Psychotherapie dar, welche auf Schmerzfreiheit ausgerichtet ist.
Oft geht es jedoch zunächst darum, iatrogene Einflussfaktoren (z.B. interventionelle Eingriffe, Opiatmissbrauch) zu identifizieren, neu zu bewerten und ggf. zu behandeln.
Dr. Sebastian Leikert
Psychoanalytiker (DGPT) affiliiertes Mitglied der DPV/IPA. Niedergelassen in eigener Praxis in Saarbrücken. Lehranalytiker, Dozent und Supervisor am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Heidelberg (DGPT) und am Saarländischen Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie (DPG); Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik (DGPM). Mitglied im Editorial Board der Zeitschriften International Journal of Psychoanalysis und The Psychoanalytic Quaterly. Arbeiten zu ästhetischen und klinischen Fragestellungen. Letzte Veröffentlichungen: (2019) Das sinnliche Selbst – Das Körpergedächtnis in der psychoanalytischen Behandlungstechnik. (2021) International Journal of Psychoanalysis. Encapsulated body engrams and somatic narration – integrating body memory into psychoanalytic technique.
Verkapseltes Körperengramm und somatische Narration – Durcharbeiten körperlicher Traumaspuren und Reduktion der Symbolisierungsstörung
Schmerz ist Anzeichen einer somatischen Dysregulation, die die Funktion haben kann, Vernichtungsgefühle und Zerstörungserlebnisse einer Traumatisierung abzuschirmen. Das Konzept des verkapselten Körperengramms beschreibt in der Tradition Tustins eine autistische Enklave im Körperselbst. Eine oftmals schmerzende Versteinerung (Petrifizierung) des Körpers bildet einen Wall gegen eine katastrophale „Überschwemmung des seelischen Apparates mit großen Reizmengen“ (Freud 1920g). Zusätzlich geschieht durch Wahrnehmungsabwehr der Entzug der Besetzung des Körperselbst – der Körper wird als fremd erlebt.
Die somatische Narration beschreibt eine psychoanalytische Arbeitsweise, die die geteilte Aufmerksamkeit auf die körperliche Selbstwahrnehmung der Analysandin lenkt und diese Erkundungsarbeit über längere Zeitstrecken aufrechterhält. Jetzt erst wird jenseits der Kette verbaler Assoziationen eine Abwehrkonfiguration im Körperselbst sichtbar. Das geduldige Erkunden dieser Abwehrstruktur weicht die Versteinerungen auf und führt dazu, dass die traumatische Desorganisation und die mit ihnen verbundenen Vernichtungsängste von der analytische Beziehung containt und reguliert werden können. Dadurch entsteht nach und nach eine weniger panische innere Situation, in der bewusstes und unbewusstes Denken sich restrukturieren können. Dissoziierte und von der Symbolisierung ausgeschlossenen Selbstanteile können reintegriert werden, die Symbolisierungsstörung ist reduziert.
Ph.D., Psy.D. Donna Orange
Fordham University, New York, 1979. Psy. D. in klinischer Psychologie, Yeshiva University, New York, 1987. Analytische Zertifizierung, Institute for the Psychoanalytic Studie über Subjektivität, New York, 1991
Assistenzprofessorin für klinische Psychologie und Beraterin/Supervisorin, New York University, Postdoktorandenprogramm für Psychotherapie und Psychoanalyse, Relationale Orientierung College of Arts and Science, New York.
Dozent und ausbildender und betreuender Analytiker, Institut für das psychoanalytische Studium der Subjektivität, New York
Leiden: absurd und bedeutsam
Psychoanalytiker können leicht zwischen körperlichem und seelischem Schmerz unterscheiden. Phänomenologen unterscheiden darüber hinaus zwischen Schmerz und Leiden. Weiter differenzieren sie unnützen, absurden, und einsamen Schmerz, auch bezeichnet als Leiden, und (Mit-)Leid für den leidenden Anderen, um ihm beizustehen. Das ist kein Masochismus, sondern Verantwortung angesichts des Bösen.
Prof. Dr. med. Reinhard Plassmann
ist Nervenarzt, Lehranalytiker der DPV und DGPT, er war bis 2014 Professor an der Universität Kassel und Leiter psychotherapeutischer Kliniken, seit 2014 Professor an der internationalen psychoanalytischen Universität Berlin IPU und in Tübingen in eigener Praxis tätig.
Seine Forschungsgebiete sind die Bedeutung von Emotionen für die Entstehung und Behandlung von Krankheiten und für die Entstehung des Selbst. Letzte Buchpublikation: Das gefühlte Selbst. Psychosozial Verlag 2021.
Die Transformation von Emotion in Schmerz
Der Vortrag skizziert das Transformationsmodell, es beschreibt, wie das Selbst sich bildet, indem sich nacheinander mehrere Repräsentationssysteme entwickeln, das Leibliche, das Kernselbst, das symbolisch sprachliche Selbst, und diese Repräsentationssysteme können zeitlebens ineinander übergehen, sich vertreten, sich miteinander verbinden und stets stehen Emotionen im Kern jedes dieser Repräsentanzsysteme. Alle Repräsentanz entwickelt sich aus einem emotionalen Kern. Störungen entstehen, wenn das normale, fließende Integrieren der Repräsentanzebenen scheitert. Das ist dann der Fall, wenn Emotionen, Affekte, von nicht mehr regulierbarer Stärke auftreten, also traumatisch starke Affekte. Dann versagen die fließenden Übergänge zwischen den Repräsentanzebenen. Traumatisch starke, nicht mehr normal regulierbare Affekte können dann als Notmanöver in eine der Repräsentanzebenen hinein gedrängt werden, beispielsweise ins Leibliche, und überladen dann diesen Bereich des Körperselbst. Der Körper wird zum Notcontainer. Diese Überladung kann vielfältige Störungen auslösen, eine davon ist Schmerz.
Das im traumatischen Schmerz eingekapselte emotionale Material will angenommen, aufgenommen, gefühlt, mitgeteilt, gesprochen, manchmal auch geschrieben werden in einem Prozess, der immer die Patientin vorangehen lässt und sie dabei begleitet.
Dipl.-Psych. Sylvia Schulze
Dozentin und Lehranalytikerin der DPG/ IPV/DPPT am Psychoanalytischen Institut im IFP Berlin.
Vorsitzende des Psychoanalytischen Instituts Berlin.
Preisträgerin des Elisabeth Young-Brühl Prejudice Award der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 2019.
Seit 2007 in eigener Praxis in Berlin niedergelassen, vorher 10-jährige Tätigkeit als Kindertherapeutin in einer Klinik in Brandenburg und im Legasthenie-Zentrum Schöneberg.
Wortloser Schmerz und die Gefahr des Verstehens
Immer wieder begegnen uns Patient:innen, denen unerträglich ist, ihrem häufig noch namenlosen Schmerz in der analytischen Situation zu begegnen. Wenn die frühe Container-Contained-Beziehung in einer vorsprachlichen Zeit basal beeinträchtigt ist, können die Verstehens– und Deutungsversuche der Analytikerin als überwältigende und gleichzeitig distanzierte Anmaßung empfunden werden. Das Dilemma besteht mithin darin, wie seelischer Schmerz in der Analyse überhaupt gefühlt und nicht nur ausgehalten werden kann, wenn es zu Beginn des Lebens kein Objekt gab, mit dem dieser gemeinsam erlitten wurde. Das Beharren der Analytikerin auf Verstehen-Wollen und verbalem Deuten kann vor diesem Hintergrund als katastrophale Wiederholung dieser frühen Situation erlebt werden. Sowohl Verstehen als auch Nicht-Verstehen wird somit zu einem catastrophic understanding.
Im Vortrag wird in zwei Fallvignetten über einen gescheiterten und einen scheinbar gelingenden Prozess von Verstehen wortlosen Schmerzes nachgedacht, und der Frage nachgegangen, wie wir für diese frühen Erfahrungen innerhalb der analytischen Beziehung eine gemeinsame Sprache finden können.
Prof. Dr. phil. Timo Storck
ist Psychoanalytiker und psychologischer Psychotherapeut. Seit 2015 ist er Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin. Studium der Psychologie an der Universität Bremen, dort auch Promotion mit einer Arbeit über künstlerische Arbeitsprozesse. Habilitation an der Universität Kassel mit einer Arbeit über Verstehensprozesse in der stationären Psychotherapie mit psychosomatisch erkrankten Patient:innen. 2023/24 Stipendiat am Käte Hamburger Zentrum für Apokalyptische und Postapokalyptische Studien an der Universität Heidelberg.
Forschungsschwerpunkte: Konzeptuelle Kompetenz in der Psychotherapie, psychoanalytische Konzeptforschung und Methodologie, Filmpsychoanalyse, psychoanalytische Krisenforschung.
Entleiblichende Verkörperung - Die Präsentation des Schmerzes
Unter den unterschiedlichen Dimensionen des Erlebens von Schmerz stellt der psychogen mitbedingte körperliche Schmerz eine wichtige Größe dar. Es lohnt sich zu prüfen, in welcher Weise hier eine Erlebnisqualität einzig über den schmerzenden Körper vermittelt werden kann. In dieser Hinsicht stellt der Schmerz eine „Präsentation“ dar, im Kontrast der auf Symbolisierungsprozessen beruhenden psychischen Re-Präsentation. Dem Individuum ist eine Komponente seines ganzheitlichen leibseelischen Erlebens abhanden gekommen, das Erleben des Selbst, der Beziehungen zu Anderen und der Affekte ist „verkörpert“, steckt gleichsam im Körper fest. Eine solche Präsentation des Schmerzes ist allerdings auch ein Kommunikationsversuch, eine Suche nach Repräsentation, die in psychodynamischen Behandlungen erarbeitet werden kann.
Prof. Dr. med. Kai von Klitzing
ehemaliger Direktor und Lehrstuhlinhaber der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters in Leipzig. Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse und der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung sowie Lehranalytiker der DPV.
Mitherausgeber der Zeitschrift KINDERANALYSE und des des Infant Mental Health Journals, Past - President der World Association for Infant Mental Health (WAIMH), Wissenschaftliche Schwerpunkte: Entwicklungspsychopathologie, Depressions- und Angststörungen in Kindheit und Jugend, frühe Eltern- Kind Beziehung, Psychotherapieforschung; Buchveröffentlichungen u.a. über psychische Probleme von Migrantenkindern, Psychotherapie in der frühen Kindheit, Psychoanalytische Therapie im Kindesalter, Vernachlässigung und reaktive Bindungsstörung.
Leider haben die Ärzte noch keine medizinischen Ursachen für meine Schmerzen gefunden.
Entwicklungspsychologische Betrachtung des psychosomatischen Symptoms
Es gibt eine lange Tradition psychoanalytischer Überlegungen zum Verhältnis von körperlichen und psychischen Schmerz. Das körperliche Symptom wird als eine Möglichkeit, unbewusste psychische Probleme auszudrücken, angesehen, wobei es offensichtlich weniger um ungelöste neurotische Konflikte, sondern mehr um eine tiefer liegende Spaltung der Psyche-Soma-Verbindung im Ich geht. Entwicklungspsychologisch gehen wir von einem durch frühe Mangelerfahrungen determiniertes brüchiges Ich aus, welches u.U. noch zusätzlich von traumatischen Erfahrungen in Mitleidenschaft gezogen und desorganisiert wird. Die inneren Spaltungsprozesse gehen oft einher mit interpersonalen Zerfallsprozessen in Familie, Schule und Gesellschaft aber auch in medizinisch- psychotherapeutischen Versorgungssystemen. In der psychoanalytischen Behandlung können wir die psychosomatische Symptombildung als Ausdruck einer notwendigen Abwehrbewegung anerkennen, aber auch die lebensbejahende Hoffnung des körperlich leidenden Individuums sehen, das mit allen Mitteln versucht, den Körper wieder in sein mentales Leben hineinzuziehen.
Ph.D. Jeanne Wolff Bernstein
ist Psychoanalytikerin und lebt und arbeitet in Wien, Österreich. Sie ist Mitglied und Lehranalytikerin des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse, wo sie stellvertretende Vorstandsvorsitzende ist. Außerdem ist sie Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats des Wiener Sigmund-Freud-Museums, wo sie 2008 auch Fulbright Freud Gastdozentin für Psychoanalyse war. Vor ihrer Übersiedlung nach Wien war Jeanne Wolff Bernstein ehemalige Präsidentin, Supervisorin und persönliche Analytikerin am PINC (Psychoanalytic Institute of Northern California). Sie ist nach wie vor am PINC und am NYU Postdoctoral Programm in New York tätig und unterrichtet am Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse (WAP). Sie hat zahlreiche Artikel über die Schnittstellen zwischen Psychoanalyse, bildender Kunst und Film veröffentlicht.
Facetten des Schmerzes, Leid und Lust vereint
Es ist keine Frage, dass der Schmerz eine besondere Qualität hat, die sich neben der Unlust geltend macht, Freud (1895/1987, p. 413). Freuds frühe Erkenntnis lässt sich auf verschiedenste Art und Weise verstehen, denn Schmerz verfolgt zahlreiche Spuren um sich im Körper und in der Seele bemerkbar zu machen. Neben Unlust produziert der Schmerz eine geheime Lust, die sich im psychischen Leben tief verankert und sich oft als unlösbar entpuppt. Freuds Theorie (1924) des Moralischen Masochismus erläutert, wie lustvolle Spannungen mit qualvollen Entspannungen eng miteinander verknüpft sind. Dieses Spannungsfeld wird von Jacques Lacan mit dem Konzept der jouissance erweitert und gipfelt in der Aussage, dass Eros vom Todestrieb nicht getrennt werden kann, sondern dass der Todestrieb in verschiedenen „psychischen Umkleidungen“ im Inneren des Lebenstriebs herrscht. Diese enge Verbindung zwischen Schmerz und Lust, Leiden und Unlust wird durch bildliche Quellen der Renaissance und Liedertexte von Cole Porter weiter erleuchtet.
Prof. Dr. rer. soc. Hans-Jürgen Wirth
ist Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker und psychoanalytischer Paar-, Familientherapeut.
Er ist Professor für Psychoanalytische Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt und Gründer des Psychosozial-Verlags.
Aktuelle Buchveröffentlichung: Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit (2. Aufl. 2023).
Horst-Eberhard Richters psychoanalytisches und sozialphilosophisches Menschenbild
Der Vortrag zeichnet die biografischen Hintergründe, insbesondere die traumatischen Kriegerlebnisse nach, die Horst-Eberhard Richter zur Psychosomatischen Medizin, zur Psychoanalyse und zur Modifikation des traditionellen psychoanalytischen Menschenbildes führten. Als 23-Jähriger aus dem Zweiten Weltkrieg heimkehrend versuchte er, seine Traumata in seiner philosophischen Doktorarbeit über den Schmerz zu verarbeiten. Aus den dort entwickelten Gedanken leitete er 30 Jahre später sein inzwischen klassisches Werk »Der Gotteskomplex« ab, in dem er »die Krankheit, nicht leiden zu können« als ein Grundübel des modernen Menschen herausarbeitete. Historisch versteht Richter den Gotteskomplex« als Kompensation für den Verlust der Sicherheit spendenden Gotteskindschaft beim Ausgang aus dem Mittelalter. In der »Leidensfähigkeit«, der »Fähigkeit des Krank-sein-Könnens« und der Fähigkeit, seelischen Schmerz zu ertragen, drückt sich ein Bewusstsein der existenziellen Vulnerabilität aus, das Richters Menschenbild charakterisiert. Im Angesicht von Kriegen und Klimakatastrophe sind Horst-Eberhard Richters Konzepte hoch aktuell.