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Zur Nationalen Suizidpräventionsstrategie

Juni 2024 - Pressemitteilung

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Recht auf selbstbestimmtes Sterben (Urteil des 2. Senats vom 26.2.2020 – 2BvR 2347/15) hat zu einem anhaltenden gesellschaftlichen Diskurs geführt, darüber, wie dieses umzusetzen sei. Wie kontrovers das Thema betrachtet wird, das spiegelten die Debatten im Deutschen Bundestag vor der Sommerpause 2023 wider. Über die beiden damals zur Abstimmung vorgelegten Gesetzesentwürfe konnte nicht entschieden werden und es kam zum Ausdruck, dass Suizidprävention und Suizidbegleitung nicht getrennt voneinander bedacht werden dürfen.[1]

Am 3. Mai 2024 hat der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die im Koalitionsvertrag beauftragte, lange erwartete nationale Suizidpräventionsstrategie vorgestellt. Die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie e.V. (DGPT) begrüßt das Vorliegen einer Suizidpräventionsstrategie, die Suizidprävention und Suizidassistenz als Einheit betrachtet mit dem Fokus auf Prävention vor Suizidbeihilfe. Jedoch sieht die DGPT noch Lücken hinsichtlich der Sicherstellung der notwendigen psychotherapeutischen Versorgung für Menschen in suizidalen Krisen, sowie für deren Angehörige. Dies gilt a) in Bezug auf die Integration von Regelungen, die einem Missbrauch der Möglichkeiten zur Suizidassistenz entgegenwirken, sowie b) der suizidpräventiven Effekte eines notwendigen Klimaschutzes.

In Deutschland sterben jährlich mehr Menschen an Suizid als durch AIDS, illegale Drogen, Gewalttaten und Verkehrsunfällen zusammengenommen. Und dies, obwohl sich die Suizidraten seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts halbiert haben – auf aktuell ca. 10.000, allerdings mit einem sprunghaften etwa zehnprozentigen Anstieg von 2021 bis 2022. Der Dunkelbereich der Suizidversuche liegt geschätzt um ein Zehnfaches höher.[2] Suizid als unnatürlicher Todesursache betrifft in Deutschland besonders zwei vulnerable Gruppen: Jugendliche sowie (hoch)betagte Menschen. Den Hintergrund für Suizidalität bilden oft psychosoziale Belastungen wie psychische Erkrankung, Erfahrung von Diskriminierung, Einsamkeit.

In jedem Suizid und Suizidversuch bildet sich eine menschliche Tragödie ab, die oftmals vermeidbar wäre, wenn die Themen des Sterbens, Tods und Suizids nicht tabuisiert würden. Obwohl wir in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft leben, müssen Betroffene von psychischer Erkrankung und Suizidalität sowie deren Angehörige heute noch Stigmatisierung fürchten. Suizidprävention, die auf wirksame Enttabuisierung und Entstigmatisierung setzt und dieses als gesamtgesellschaftliche Aufgabe definiert, geht ebenso in die richtige Richtung wie eine Suizidpräventionsstrategie auf den Säulen von Aufklärungs- und Informationskampagnen und auf der Sicherstellung bedarfsgerechter psychotherapeutischer, psychiatrischer, psychosozialer und palliativmedizinischer Versorgung.[3]

Psychotherapeutische Versorgung als Säule der Suizidpräventionsstrategie sichern

Als Psychotherapeut:innen, die mit suizidalen Menschen arbeiten, können wir beobachten, dass die sich bildende vertrauensvolle therapeutische Beziehung ein protektiver Faktor im Hinblick auf Suizidalität ist. Andererseits machen wir die Erfahrung, wie wichtig es für die Hinterbliebenen von Suizidopfern ist, über den plötzlichen Verlust sowie die damit verbundenen Gefühle von Trauer, Schuld, Wut sprechen zu können. Der Verlust eines Angehörigen durch Suizid kann mit einem traumatischen Erlebnis gleichgesetzt werden. Um das Risiko von psychischen Folgeerkrankungen zu reduzieren, ist es wichtig, möglichst rasch psychotherapeutische Akuthilfe zu leisten. Doch oftmals ist es für Menschen schwierig, in akuten Krisen die notwendige Hilfe zu finden. Dies änderte sich auch nach der Strukturreform der PsychotherapieRichtlinie nicht, die 2017 implementiert wurde, um den Zugang zur ambulanten Psychotherapie zu erleichtern. Im Gegenteil, die Wartezeiten waren nach der Reform noch angestiegen.[4] Nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer[5] beträgt die Wartezeit auf den Beginn einer Psychotherapie im Durchschnitt fünf Monate. Für Menschen mit komplexen psychischen Vorerkrankungen kann dies unter Umständen noch länger dauern.

Der im April 2024 durch das BMG herausgegebene Referentenentwurf zum Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) greift den Aspekt der Verbesserung psychotherapeutischer Versorgung für Kinder und Jugendliche als einer der beiden für Suizid besonders vulnerablen Gruppen auf, insbesondere durch eine eigene Bedarfsplanung. Dies hat die DGPT in ihrer Stellungnahme von April 2024 ausdrücklich begrüßt.[6] Darüber hinaus bleibt zu hoffen, dass das Versäumnis, im Referentenentwurf auch die längst überfällige Finanzierung für die Weiterbildung der zukünftigen Generation von Psychotherapeut:innen zu regeln, noch verbessert wird. Andernfalls wäre schon heute absehbar, dass Deutschland auf einen sich über mehrere Jahre fortschreibenden psychotherapeutischen Versorgungsengpass zuläuft – der dann auch der fachpsychotherapeutischen Versorgung in der wirksamen Suizidprävention entgegensteht.

Formulierung von Regelungen, die dem Missbrauch von assistiertem Suizid entgegenwirken

Die gesetzliche Einordnung von Suizid hat sich geschichtlich immens verändert, von einem Straftatbestand hin zu zum Postulat eines Rechts auf selbstbestimmtes Sterben als Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Urteil des Bundesverfassungsgerichts, BVerG, vom 26.2. 2020). Die Maßnahmen der Suizidprävention verhindern allerdings nicht den potenziellen Missbrauch der Sterbebeihilfe durch Dritte. Psychotherapeut:innen, die mit Suizident:innen arbeiten, befinden sich in einem fachlichen und ethischen Dilemma. Einerseits ist das durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil gestärkte Selbstbestimmungsrecht des Menschen ein hohes Gut. Gleichzeitig kann der geäußerte Wunsch zu sterben durch eine psychische Erkrankung befördert werden, auf deren Heilung hinzuwirken die Verantwortung und Aufgabe von Psychotherapeut:innen ist.[7] Als psychoanalytisch und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeut:innen erfahren wir in der Arbeit mit suizidalen Patient:innen und deren Angehörigen bzw. Hinterbliebenen von Suizidopfern, wie komplex die suizidale Dynamik ist und wie viel Zeit notwendig ist, um das Geschehen zu verstehen. Zum Beispiel kann die Frage, ob bei einem Menschen mit einer psychischen Krankheit die notwendige freiverantwortliche Selbstbestimmungsfähigkeit vorliegt, nicht pauschal, sondern nur einzelfallbezogen beantwortet werden. Eine humane Haltung in der psychotherapeutischen Begegnung mit suizidalen Menschen bedeutet hier eine nicht-wertende Haltung. Oftmals ist das Denken des suizidwilligen Menschen zeitweilig so eingeengt, dass der suizidgefährdete Mensch in diesem erfahrungsgemäß relativ begrenzten Zeitfenster nicht in der Lage ist, die leidvollen und unter Umständen zerstörerischen Konsequenzen des eigenen Suizids für seine Angehörigen abzusehen. In der nationalen Suizidpräventionsstrategie fehlt eine Auseinandersetzung mit der Möglichkeit der Anwendung eines stärker kooperativen Freiheitsbegriffs bei der Beurteilung des Persönlichkeitsrechts. Damit ist ein Freiheitsbegriff gemeint, der auch die Grenzen der Freiheit einschließt. Dieser könnte sich dann auch auf die Berufsordnungen der Heilberufe auswirken.[8]

Vielfach haben selbst Fachleute zu wenig Kenntnisse über Suizidalität, d.h. über die Ambivalenz von suizidalen Vorstellungen, von suizidalem Erleben oder Verhalten, über Hilfsmöglichkeiten, über Konzepte von Kriseninterventionen.[9] In der Suizidpräventionsstrategie fehlt jeglicher Hinweis zum Umgang mit dem assistierten Suizid. So sollten aus Sicht der DGPT auch die potentiellen professionellen Begleiter:innen eines assistierten Suizids als Zielgruppe von Information und Aufklärung berücksichtigt werden. Die Begegnung mit einer:einem Suizident:in kann auch auf die professionellen Helfenden eine starke emotionale Wirkung haben und dann beispielswese zu einer unbewussten Identifizierung mit der Ohnmacht und Verzweiflung von jenen führen, so dass der Todeswunsch nicht mehr aus einer hinreichend äquidistanten professionellen Perspektive – die gleichermaßen zwischen dem Recht der:des Suizident:in zu sterben und ihrer Aufgabe zu heilen oszilliert – kritisch reflektieren kann. Aus diesem Grund hat der Geschäftsführende Vorstand der DGPT bereits 2020 Vorschläge zur Neuregelung der Suizidassistenz und des § 217 StGB gemacht, die die Komplexität bei Vorliegen von Suizidalität und Wunsch nach Assistenz berücksichtigen und darauf hoffen lassen, dass eine sinnvolle Regelung zum assistierten Suizid – anders als gemeinhin angenommen – auch eine präventive Wirkung entfalten kann. Beispielsweise dann, wenn drei Beratungsgespräche oder eine Wartezeit Voraussetzung wären.[10]

Aus Sicht der DGPT ist Notwendigkeit geboten, auch die längerfristigen Folgen des o.g. Urteils des Bundesverfassungsgerichts evaluativ zu erheben. Eine Evaluation als integraler Bestandteil der Nationalen Suizidpräventionsstrategie ist zwar genannt, doch bleibt offen, ob jene nur die Maßnahmen der Prävention oder gleichermaßen auch den assistierten Suizid erfasst.

Klimawandelbedingte Begleitumstände von Suiziden und Suizidversuchen ernstnehmen

Es ist nichts Neues, dass sich gesellschaftliche Krisen auf die Suizidraten auswirken. Daher könnte es als eine Engführung betrachtet werden, wenn wir exemplarisch die klimabedingten Begleitumstände von Suiziden und Suizidversuchen herausgreifen. Wir haben uns dazu entschlossen, weil dieser Zusammenhang in den letzten Jahren besonders intensiv untersucht und publiziert wurde. Bereits im 19. Jahrhundert wurde ein Anstieg der Suizide im Sommer beobachtet. Das Umweltbundesamt geht von einem Anstieg extremer Wetterphänomene aus und rechnet mit einer steigenden Zahl, Dauer, Frequenz der Hitzeepisoden.[11] In der Literatur werden als gesellschaftlich-soziale Begleitumstände der sprunghaften Zunahme von Suiziden und Suizidversuchen einerseits die zunehmende Vereinsamung, doch auch die Zunahme von psychischen Erkrankungen und höheren Suizidraten in Verbindung mit der klimawandel-bedingten Hitzebelastung beschrieben.[12][13][14] Klimavorhersagen auf das Jahr 2050 gehen von einem erheblichen Anstieg der Suizide aus, die mit einer temperaturbedingten Zunahme depressiver Gedanken zusammenhängen, beispielsweise sich einsam, eingeengt oder gefangen zu sehen.[15] In Anbetracht der vielfältigen negativen Auswirkungen des Klimawandels, der Extremwetterereignisse und insbesondere des Temperaturanstiegs auf die psychische Gesundheit und besonders auf die Suizidraten müssen Maßnahmen des Klimaschutzes in einer zeitgemäßen nationalen Suizidpräventionsstrategie Erwähnung bzw. reflektierende Auseinandersetzung erfahren.

 


[1] Der Suizid darf nicht zur gesellschaftlichen Normalität werden. Gemeinsame Pressemitteilung von BÄK, NaSPro, DGPPN und DGP vom 28.6.2023.

[2] Bundesministerium für Gesundheit (2024). Nationale Suizidpräventionsstrategie. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Praevention/abschlussbericht/240430_Nationale_Suizidpraeventionsstrategie.pdf (zuletzt aufgerufen: 19.5.2024)

[3] Deutscher Bundestag Wissenschaftliche Dienste (2024). Zur Suizidprävention in Deutschland und Europa. WD 9 – 3000 – 088/23.

[4] Kruse J, Kampling H, Bouami SF, Grobe TG, Hartmann M, Jedamzik J, Marschall U, Szecsenyi J, Werner S, Wild B, Zara S, Heuft G, Friederich HC and the ES-RiP-Konsortium: Outpatient psychotherapy in Germany—an evaluation of the structural reform. Dtsch Arztebl Int 2024; 121: 315–22. DOI: 10.3238/arztebl.m2024.0039

[5] Bundespsychotherapeutenkammer: Pressemitteilung: Psychisch Kranke warten 142 Tage auf eine Psychotherapie. BPtK zur Befragung des GKV-Spitzenverbandes. 2022.

[6]dgpt.de/artikel/gesetz-zur-staerkung-der-gesundheitsversorgung-psychoanalytiker-verband-fordert-nachbesserung.

[7] Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfahlen. Stellungnahme Suizidassistenz vom 19.5.2023.

[8] Heinemann, B., Oesterle-Stephan, A. et al. (2021). Memorandum der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes über den assistierten Suizid. https://www.dpv-psa.de/fileadmin/downloads/Archiv/Dokumente/2021.24.06__DPV-Memorandum_assisitierter_Suizid.pdf. (Zuletzt abgerufen: 19.5.2024).

[9] Schneider, B., Lindner, R., Giegling, I., Müller, S., Müller-Pein, H., Rujescu, D., Urban, B. & Fiedler, G. (2021). Suizidprävention Deutschland – Aktueller Stand und Perspektiven. Online verfügbar unter: www.bundesge- sundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Praevention/abschlussbericht/suizidpraeven- tion_abschlussbericht_bf.pdf. (Zuletzt abgerufen 19.5.2024).

[10] Vorstellungen und Vorschläge zu wesentlichen Eckpunkten einer möglichen Neuregelung der Suizidassistenz. Stellungnahme der DGPT vom 22.6.2020.

[11] Wasem, J., Richter, A.-K., Schillo S. (2018). Sachbericht zum Projekt „Untersuchung des Einflusses von Hitze auf Morbidität“. Gefördert durch BMG: Förderkennzeichen 2516FSB507. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Berichte/Hitze_u._Morbiditaet_Abschlussbericht.pdf (zuletzt abgerufen: 19.5.2024).

[12] Schneider et al. (2021). s.o.

[13] Lester, D. (2021). The Environment and Suicide – Why suicidologists should support climate change policies. In: Crisis. The Journal of Crisis Intervention and Suicide Prevention, 2, 89-91.

[14] Sheikh, S., Hussaini S.S., et al. (2023). Prevention of suicides associated with global warming: perspectives from early career psychiatrists. Front. Psychiatry, 14: 1251630.

[15] Meyer, R. (2018). Depressionen: Mehr Suizide durch Klimawandel. Deutsches Ärzteblatt PP, 17, 408. https://www.aerzteblatt.de/archiv/200272/Depressionen-Mehr-Suizide-durch-Klimawandel. (Zuletzt abgerufen: 19.5.2024).