Wie geben Eltern eine Depression an ihre Kinder weiter? Forschungspreis 2024 für psychoanalytische Arbeiten
Die diesjährigen Preisträger:innen
Kinder von depressiven Eltern erkranken oft selber an einer Depression. Wie kommt es genau dazu?
Welche Rolle spielt dabei die sogenannte Mentalisierungsfähigkeit der Eltern? Eine psychoanalytisch
orientierte Studie zu dieser Frage ist heute auf dem „6. Tag der Forschung“ mit dem Wilhelm-Bitter-Forschungspreis 2024 prämiert worden. Der „Tag der Forschung“ wird einmal im Jahr von der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) e.V. veranstaltet, um psychoanalytische Forschung in der von Verhaltenstherapie dominierten Forschungslandschaft sichtbarer zu machen.
Viele kleine Kinder haben Eltern, die an einer Depression leiden: 17 Prozent der Mütter erkranken an einer postpartalen Depression nach der Geburt eines Kindes, aber auch 8 Prozent der Väter. Studien zeigen, dass Kinder depressiver Eltern ein höheres Risiko haben, ebenfalls psychisch krank zu werden. „Deshalb sind Forschungsarbeiten zur Weitergabe von psychischen Problemen – transgenerationale Weitergabe oder Transmission genannt – so wichtig“, betont Prof. Silke Wiegand-Grefe, Professorin für klinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Sie ist Vorsitzende der fünfköpfigen Jury des Wilhelm-Bitter-Forschungspreises 2024, der heute auf dem „Tag der Forschung“ verliehen wurde. „Eine prämierte Studie – von der Forscherin Dr. Anna Georg – zoomt ganz nah an die Mechanismen heran, was genau für Kinder schwierig ist, wenn sie mit einem depressiven Elternteil aufwachsen“, so Wiegand-Grefe. „Die Ergebnisse können relevant sein für Interventionen mit Eltern und ihren Kindern.“ Zum sechsten Mal hat die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) e.V. den „Tag der Forschung“ ausgerichtet, der als Online-Konferenz stattfand und auf dem mehrere Preise vergeben wurden.
Die Arbeit von Dr. phil. Anna Georg, die am Institut für Psychosoziale Prävention am Universitätsklinikum Heidelberg forscht, ist in der Kategorie „Postdoc“ (für bereits promovierte Forschende) ausgezeichnet worden. Im Zentrum ihrer Forschung steht die sogenannte Mentalisierungsfähigkeit der Eltern. „Das psychoanalytische Konzept der Mentalisierung bezeichnet die Fähigkeit, beobachtetes Verhalten mit Emotionen zu verknüpfen, bei anderen und bei sich selbst“, erklärt Wiegand-Grefe. Mentalisierung ist damit die Grundlage für das Einfühlungsvermögen. In der Studie von Georg kam heraus, dass es Eltern mit zunehmendem Ausmaß der Depression schwerer fällt, sich in die innere Welt ihres Kindes hineinzuversetzen. Aus diesem Ergebnis lässt sich ableiten, dass betroffene Eltern von einer mentalisierungsbasierten Psychotherapie profitieren könnten – mit der Folge, dass Kinder sich gesünder entwickeln. Die Studie von Georg ist eine sogenannte Metaanalyse, die die Ergebnisse von mehreren Studien zusammenfasst. „Die Wissenschaftlerin hat dabei die unglaublich große Anzahl von 63 Studien analysiert, und das methodisch sehr sauber“, berichtet Wiegand-Grefe.
In der Kategorie „Doktorand:innen“ sind zwei Preisträger ausgezeichnet worden. André Kerber, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Klinisch-Psychologische Interventionen an der FU Berlin, untersuchte in seiner Arbeit verschiedene psychodynamische Konzepte – wie Persönlichkeitsstruktur, Objektbeziehungstheorie und Mentalisierungstheorie – im Kontext einer aktuell stark beforschten Klassifikation von psychopathologischen Symptomen: der Hierarchischen Taxonomie der Psychopathologie, kurz HiTOP. Die HiTOP fasst Symptome zu Syndromen und Spektren zusammen, und zwar diagnoseübergreifend. Wiegand-Grefe: „Das ist die erste Studie, die diese Zusammenhänge auch mit psychodynamischen Konstrukten mit einer so großen Stichprobe, nämlich mit 27.000 Teilnehmenden, über einen längeren Zeitraum von zwei Jahren untersucht.“
Die zweite prämierte Doktorarbeit von Samuel Bayer, Charité – Universitätsmedizin Berlin, befasst sich mit der Frage, ob Menschen mit Psychosen von einer Psychotherapie profitieren können. In der Vergangenheit wurde eine Psychotherapie mit psychotisch Erkrankten häufig als unmöglich betrachtet. Doch die Arbeit zeigte, dass die strukturellen Fähigkeiten bei den Betroffenen – wie Selbstwahrnehmung oder Selbststeuerung – nicht so beeinträchtigt sind wie oft angenommen.
In der Kategorie „Master“ überzeugte Irene Fechau, die in ihrer Masterarbeit an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) Berlin mit einer ausführlichen qualitativen Auswertungsmethode prüfte, wie psychisch erkrankte Patientinnen und Patienten die Teilnahme an einer wissenschaftlichen Studie zur Behandlung von Traumafolgestörungen erleben.
Die Forschungspreise werden von der Wilhelm-Bitter-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Verein zur Förderung der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie in Deutschland (VFPT) vergeben.
Originalpublikation:
- Bayer S. et al. (2024): Level of structural integration in people with schizophrenia und schizoaffective disorders –
applicability and associations with clinical parameters. Front. Psychiatry, 15.
- Fechau E.I. et al. (2024): The balancing act of fitting in: A grounded theory study on how patients with posttraumatic
stress disorder following childhood maltreatment experience participating in a randomized controlled psychotherapy
study. Qualitative Psychology, October 2024.
- Georg A.K. et al. (2024): Is parental depression related to parental mentalizing? A systematic review and three-level
meta-analysis. Clinical Psychology Review, 104.
- Kerber A. (2024): Examining the role of personality functioning in a hierarchical taxonomy of psychopathology using
two years of ambulatory assessed data. Translational Psychiatry, 14, 340.