Suizidprävention: „Uns fehlt ein Freiheitsbegriff, der die Grenzen einschließt“ - Interview mit Birgit Jänchen-van der Hoofd, Vorsitzende der DGPT
In Deutschland begehen aktuell pro Jahr rund 10.000Menschen einen Suizid, Tendenz steigend. Der Dunkelbereich liegt geschätzt um ein Zehnfaches höher.Mit einer Nationalen Suizidpräventionsstrategie will Bundesgesundheitsminister Lauterbach den Suizid als vermeidbare Todesursache verhindern. Nach Ansicht der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie e.V. (DGPT) weist die jüngst vorgestellte Strategie Lücken auf. ZumWelttag der Suizidprävention äußert sich Birgit Jänchen-van der Hoofd im Interview, Vorsitzende der DGPT und Chefärztin der Abteilung für psychosomatischeMedizin in den Kliniken im Theodor-Wenzel-Werk in Berlin.
Frau Jänchen-van der Hoofd, was sind die wesentlichen Punkte der vorgelegten Nationalen Suizidpräventionsstrategie?
Jänchen-van der Hoofd: Hauptanliegen dieser Strategie ist die Stärkung der Suizidprävention und damit die Unterstützung vonMenschen in Krisensituationen. Die Suizidraten konnten von den 1980er Jahren bis 2008 halbiert werden, unter anderemdurch nachweislich wirkungsvolle Maßnahmen, die der sogenannten universellen Prävention zugeordnet werden können: Die Möglichkeiten, einen Suizid begehen zu können, werden in den „Hotspots“ eingeschränkt, sei es durch Zäune auf bestimmten Hochhäusern und Brücken oder einen erschwerten Zugang zu
Bahnschienen. Die vorgelegte nationale Suizidprävention geht darüber hinaus, in dem sie drei Handlungsfelder der Suizidprävention definiert, dazu gehören der Ausbau und die Förderung von Sensibilität und Kompetenz der Fachkräfte im Umgang mit Suizidalität, der Ausbau psychosozialer Beratungs- und Unterstützungsangebote sowie eine nachhaltige Koordination der Vernetzung aller Akteure und Maßnahmen der Suizidprävention.
WelcheMaßnahmen sind in dem Strategiepapier noch konkret zur Prävention vorgesehen?
Jänchen-van der Hoofd: Die jetzt vorgelegte Nationale Suizidpräventionsstrategie erhebt den Anspruch, das Thema Suizid zu enttabuisieren und das Bewusstsein für die Vermeidbarkeit zu schärfen. Dazu gehört, die breite Streuung von Informationsangeboten über Hilfen in Krisensituationen in der Bevölkerung. Zudemsollen die Hilfsangebote wie Krisentelefon, Seelsorge, Nachbarschaftsprojekte, Stressbewältigungsprogramme oder Psychotherapie gestärkt und auf nationaler Ebene besser vernetzt werden, sodass dieMenschen z.B. auch in ländlichen Gebieten besser Hilfen wahrnehmen können. Denn oftmals wären Suizide oder Suizidversuche vermeidbar, wenn diese Angebote die verzweifeltenMenschen frühzeitig erreicht hätten. Bei der Nachsorge von Betroffenen, die einen Suizid überlebt haben, besteht aus unserer Sicht Verbesserungsbedarf, dass dieser beispielsweise überhaupt als solcher erkannt wird. Dazu benötigt es eine angemessene Fortbildung für alle Heilberufe sowie in der Ausbildung oder im Studiumschon ein Augenmerk auf die Enttabuisierung des Suizides. Damit das Fachpersonal die Scheu vor demThema verliert und um auf die Idee zu kommen, dass einem Unfall oder einer Vergiftung vielleicht eine suizidale Absicht zugrunde lag. Ein Suizidversuch ist immerhin ein starker Prädiktor für einen erneuten Versuch.
In Deutschland sterben aktuell pro Jahr rund 10.000Menschen an einem Suizid, Tendenz steigend. Die Zahl der Suizidversuche wird sogar auf 100.000 geschätzt. Wieso wählen die Menschen den Freitod und welche Personengruppen sind besonders betroffen?
Jänchen-van der Hoofd: Diese Menschen durchleben meistens eine lange Leidensphase, bevor sie die Schwelle überwinden, sich das Leben zu nehmen. Aber auch Familie und Freunde sind von der schmerzhaften Erfahrung betroffen, einen geliebten Menschen durch einen Freitod zu verlieren. Sie verbleiben oftmals in Verzweiflung, Wut und Schuldgefühlen. Und in tiefer Trauer. Insgesamt begehen dreimal soviel Männer wie Frauen einen Suizid. Männer gehen anders mit persönlichen Krisen um; sie suchen auch seltener Hilfsangebote auf. Mehr als 70 Prozent der Suizide betrifft über 50-Jährige. Je älter die Menschen sind, desto niedriger ist die Schwelle, sich umzubringen. Hochbetagte sind besonders gefährdet. Die Gründe dafür sind häufig die Angst vor Abhängigkeit bei zunehmender Gebrechlichkeit, aber auch Verluste von Partnern oder Freunden stellen ein Risiko dar. Einen assistierten Suizid haben nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) e.V. im Jahr 2023 hierzulande rund 1.000Menschen begangen. Es sind meist Menschen im hohen Alter, die an einer oder mehreren schweren unheilbaren Erkrankungen leiden. Aufgrund der sensiblen Entwicklungsphase sind auch Jugendliche besonders gefährdet und benötigen einen besonderen Schutz. Neben den Altersgruppen lassen sich weitere Zielgruppen identifizieren: psychisch Erkrankte oder Menschen mit Suchterkrankungen, Menschen mit besonderen Diskriminierungserfahrungen. Wichtig ist zu berücksichtigen, dass suizidale Menschen nicht unbedingt sterben wollen. Sie wollen so nicht weiterleben und der Freitod ist die zur Verfügung stehende Lösung.
In der Nationalen Suizidpräventionsstrategie werden Suizidprävention und der assistierte Suizid, also die Beihilfe zur Selbsttötung, zusammen betrachtet. Warum ist das so und wie steht die DGPT dazu?
Jänchen-van der Hoofd: Man muss unserer Meinung nach die Suizidprävention und den assistierten Suizid als Einheit sehen. Wenn ein assistierter Suizid per Gesetz nicht strafbar ist, dann muss gleichzeitig verhindert werden, dass diese gesetzliche Regelung missbraucht wird. Dass sich zum Beispiel ein Geschäft mit dem Sterben entwickelt oder Menschen sich als Belastung für ihre Angehörigen empfinden und sich genötigt fühlen, den Tod zu wünschen. Dass sich kranke und alte Menschen als überflüssig fühlen und den Suizid als einzigen Ausweg sehen. Deswegen begrüßt die DGPT grundsätzlich die nationale Suizidpräventionsstrategie, aber mit dem Fokus auf Prävention vor der Suizidhilfe. Das bedeutet zum Beispiel, dass es ausreichend Hilfsangebote für Betroffene gibt, damit sie sich gar nicht erst als Belastung für die anderen oder überflüssig empfinden.Wir legen auch deswegen den Fokus auf Prävention, weil wir hier als
Psychotherapeuten präventiv ansetzen und Betroffene auffangen können.
Inwiefern spielt die psychotherapeutische Versorgung bei der Suizidprävention eine Rolle? Ist diese in Deutschland gesichert?
Jänchen-van der Hoofd: Die therapeutische Beziehung, die sich in einer Psychotherapie entwickelt, ist die wirksamste Suizidprävention. Das haben wissenschaftliche Studien ergeben. In der therapeutischen Beziehung kann der Wert der eigenen Person, die Bedeutung von Beziehung erfahren und verinnerlicht werden. Dazu kommt, dass wir auch die Erfahrung machen, wie wichtig es für die Hinterbliebenen von Suizidopfern ist, über den plötzlichen Verlust und die damit verbundenen Gefühle sprechen zu können. Der Verlust eines Angehörigen durch Suizid gleicht einem traumatischen Ereignis und bedarf einer raschen psychotherapeutischen Akuthilfe. Das Problem: Für Menschen in akuten Krisen ist es oftmals schwierig, die notwendigen therapeutischen Hilfen zu finden. Nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer beträgt die Wartezeit auf den Beginn einer Psychotherapie im Schnitt fünf Monate. Für einen Menschen in einer suizidalen Krise oder für Angehörige entschieden zu lang. Ein anderes, nicht weniger bedeutsames Problem ist die Tabuisierung des Suizids, das Angehörige aus Sorge vor Stigmatisierung nicht darüber sprechen, was ihnen widerfahren ist, sich eine Coverstory ausdenken, dabei mit ihrer Geschichte aber isoliert bleiben. Die DGPT sieht da noch deutliche Lücken, um die notwendige psychotherapeutische Versorgung von Betroffenen Menschen sicherzustellen. Es muss die Finanzierung der Aus- und Weiterbildung zukünftiger Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen verbessert und Methodenkompetenz vermittelt werden. Einen Menschen in einer suizidalen Krise psychotherapeutisch zu unterstützen ist eine große Herausforderung. Der Therapeut muss für sich erarbeiten, dass es nicht um die eigenen Motive geht, den Patienten oder die Patientin retten zu wollen. Diese müssen sich aus sich selbst heraus retten und leben wollen, also die Motivation zu leben muss von ihnen kommen.
Die DGPT sieht Versäumnisse in der Regelung der assistierten Sterbehilfe durch Dritte. An welchen Stellen?
Jänchen-van der Hoofd: 2020 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass „das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen“. In der Regelung wird deutlich die Freiheit des Menschen betont. In der Nationalen Suizidpräventionstherapie fehlt uns ein Freiheitsbegriff, der auch die Grenzen der Freiheit einschließt, beispielsweise die Auswirkungen für die Hinterbliebenen berücksichtigt werden. Wenn man die Freiheit betont, muss die Suizidprävention genauso unterstrichen werden. Denn solange jemand nicht ausreichend Hilfsangebote wahrgenommen hat, hat die Entscheidung zu sterben mehr mit Ausweglosigkeit als mit einer bewussten freien Entscheidung für den Tod zu tun.
wissenschaftliche Ansprechpartnerin:
Birgit Jaenchen-van der Hoofd, Vorsitzende der DGPT und Chefärztin der Abteilung für psychosomatischeMedizin in den Kliniken im Theodor-Wenzel-Werk in Berlin, birgit.jaenchen-van-der-hoofd@dgpt.de